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Historie – Gottfried von Cramm

Gottfried von Cramm – Ein Lebensbild
von
Jens Nordalm

(Jens Nordalm ist Autor des Buches: „Der schöne Deutsche – Das Leben des Gottfried von Cramm“, Rowohlt-Verlag 2021)

Gottfried Alexander Maximilian Walter Kurt Freiherr von Cramm wurde am 7. Juli 1909 in Nettlingen, Niedersachsen, geboren – als dritter von sieben Söhnen in eine protestantische Adelsfamilie mit tausendjähriger Geschichte in diesem Raum um Hildesheim. Ein Vorfahr war ein Mitstreiter und Freund Martin Luthers. Cramms Vater, Baron Burghard von Cramm, hatte in Oxford Jura studiert, war Doktor der Rechte und Mitglied des Braunschweigischen Landtags. Liberaler der er war, unterzeichnete er 1926 mit allzu wenigen Standesgenossen den Aufruf eines adligen Abgeordneten von Gustav Stresemanns Deutscher Volkspartei, der deutsche Adel solle die Regierung der Weimarer Republik unterstützen und bei der Führung des Staates mitwirken. Die Mutter, Jutta von Cramm, geborene Steinberg, brachte aus ebenso altem niedersächsischem Adel zu den Cramm’schen Besitzungen weitere Schlösser, Güter und Patronate evangelischer Kirchen mit in die Ehe. Früh Witwe, übernahm sie in den dreißiger Jahren die Leitung der Familiengüter und füllte über Jahrzehnte die soziale Rolle der Baronin aus – in Dorf und Region, als Kirchenpatronin und als Verantwortliche im örtlichen Roten Kreuz, in Evangelischer Frauenhilfe oder Müttergenesungswerk.

In dieser Atmosphäre wuchs Cramm auf. Sein Vater war in England zum Anhänger des Sports und besonders des Tennissports geworden – und ließ sich schon vor dem Ersten Weltkrieg einen Ascheplatz in den Park seines Schlosses in Brüggen bauen; weitere Plätze in zwei der anderen Parks folgten nach dem Krieg. So kam es, dass schon der Junge viel trainierte und zudem in seinen Brüdern jederzeit Partner und Gegner hatte. Seit 1924 waren er und die Brüder Mitglieder des DTV. Sechs Cramms auf einmal sprangen aus dem „Horch“, den der Chauffeur der Familie vor das Hannoveraner Clubgelände steuerte. Die Turnier-Organisatoren verloren den Überblick über die jungen Barone von Cramm. (Noch im Juli 1935 meldeten die Hamburger Nachrichten, bei den beginnenden nationalen Meisterschaften in Braunschweig befänden sich unter den 43 gemeldeten Spielern nicht weniger als fünf Brüder von Cramm.)

Entscheidend entdeckt wurde Cramms Talent Mitte der zwanziger Jahre auf den Plätzen der befreundeten Familie von Dobeneck, Nachbarn der Cramms, die sich Tennisunterricht von den besten Spielern und Trainern Deutschlands leisteten – allesamt vom Berliner Club LTTC Rot-Weiß, dem sportlich bedeutendsten Tennisclub dieser Zeit in Deutschland: Otto Froitzheim, Robert und Heinrich Kleinschroth, Roman Najuch. Cramm wiederum entdeckte bei den Dobenecks seine erste Frau, Lisa. Die beiden wurden im Berlin der frühen dreißiger Jahre ein gesellschaftlich und sportlich glamouröses Paar auf der Lebenshöhe dieser Zeit: er der schöne „Tennisbaron“ mit den makellosen Manieren, sie ein Stilvorbild der „Neuen Frau“, rauchend in Hosen auf Motorrädern und in schnellen Autos, später deutsche Meisterin im Hockey und zunächst auf internationalen Turnieren auch Mixed-Partnerin ihres Ehemannes.

Nach dem Abitur und während eines in Berlin zunächst aufgenommenen Jurastudiums begann 1928 Cramms Aufstieg in die deutsche und in die Weltspitze des Tennis – bei Rot-Weiß im Grunewald, wo er bald hinter seinem aus jüdischer Familie stammenden Clubkameraden Daniel Prenn die deutsche Nummer zwei wurde. Sein erstes internationales Turnier gewann er 1931 im Einzel und im Doppel in Athen. Danach gab er sein Studium auf, begab sich vollends in einen dichten und bald auch ganzjährigen Turnierreigen zwischen Stockholm und Kairo und arbeitete mit einer nach dem Urteil von Zeitgenossen international außergewöhnlichen methodischen Konsequenz und Intensität an seiner Fitness und an der Verbesserung seiner Schläge. Ende 1934 war er die Nummer drei, Ende 1935 die Nummer zwei der Weltrangliste, hinter dem Engländer Fred Perry. Er war in dieser Zeit der neben Max Schmeling beliebteste Sportler Deutschlands und für Donald Budge, seinen großen amerikanischen Gegner und Freund, der populärste Tennisspieler überhaupt.

Cramm wird bis 1937 zum erfolgreichsten Davis-Cup-Spieler der Welt: 61 Siege in 73 Kämpfen. Er siegt mit Hilde Krahwinkel 1933 in Wimbledon, gewinnt zweimal die French Open – der Sieg 1934 ist sein erster Grand-Slam-Titel und der erste Sieg eines Deutschen dort – und steht dreimal hintereinander im Finale von Wimbledon, 1935, 1936, 1937. Jedes Mal unterliegt er – aber in einer Weise, die Siegen ähnelte. Als „Gentleman of Wimbledon“ und, nach drei Niederlagen, „Gracious Loser“ lieben ihn die Engländer. Der „Gentleman“ deutet es an: Geschätzt und verehrt wurde er für sein elegantes und mühelos wirkendes Spiel – aber ebenso für seine außergewöhnliche Fairness. Zahlreich sind die Beispiele seiner Korrekturen falscher Schiedsrichterentscheidungen zugunsten des Gegners, selbst in spielentscheidenden Momenten; tadellos war sein ruhiges und freundliches Auftreten auf dem Platz, erstaunlich seine heitere Gelassenheit nach Niederlagen beim Händeschütteln am Netz.

Zugleich ist diese Karriere seit 1933 überschattet von zwei persönlichen Gefährdungen. Zum einen machte Cramm keinen Hehl aus seiner inneren Distanz zum nationalsozialistischen Regime – und kritisierte etwa wiederholt den Ausschluss von Daniel Prenn aus dem deutschen Davis-Cup-Team. Auch wurde er nie Mitglied der NSDAP – obwohl viele es ihm nahegelegt haben, darunter auch Hermann Göring, sein Clubkamerad und Bewunderer im LTTC Rot-Weiß. Zum anderen führte Cramm seine 1931 begonnene homosexuelle Beziehung zu dem jüdischen Schauspieler Manasse Herbst fort, im Einvernehmen übrigens mit seiner Ehefrau Lisa – und trotz Warnungen ihm gewogener Menschen nicht so versteckt, dass die Nazis es hätten übersehen können. Er schützte Herbst in Berlin und unterstützte ihn auch später im zunächst europäischen Exil. Beide Gefährdungen, hoffte Cramm, würden vielleicht so lange nicht akut werden, wie er als Tennisspieler erfolgreich war. Die Hoffnung trog. Anfang März 1938, am Abend seiner Rückkehr von einer halbjährigen umjubelten Welttournee nach Nordamerika, Australien, Japan und die Philippinen (mit Henner Henkel hatte er 1937 die US Open im Doppel gewonnen), wurde Cramm von der Gestapo im Familienschloss in Brüggen verhaftet, wochenlang in den Kellern in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin verhört und im Mai wegen des Verstoßes gegen den Paragraphen 175 RStGB zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, unter Anrechnung der zwei Monate Untersuchungshaft.

Cramm führte sich gut, so die Gerichtsakten, und wurde nach sieben Monaten in Moabit im Oktober 1938 auf Bewährung entlassen. Als Vorbestrafter zu den wichtigen Turnieren fortan (und zum Teil bis Anfang der fünfziger Jahre) nicht zugelassen, konnte er an seine früheren Erfolge nicht mehr anknüpfen. Aber wo er zugelassen wurde, gewann er – und wäre nach dem Urteil von Zeitgenossen 1939 wohl die Nummer eins der Welt geworden, hätte er ungestört spielen können. 1940 zur Wehrmacht eingezogen und im Dezember 1941 an die Ostfront geschickt, kehrte Cramm im Februar 1942 mit schweren Erfrierungen zurück und wirkte in Berlin im Widerstandskreis um seinen später hingerichteten Freund Adam von Trott zu Solz am Rande mit. Er nutzte dafür seine schwedischen Kontakte (seit einer Begegnung 1930 bei den Turnieren an der Riviera war er mit dem schwedischen König Gustav V. befreundet) und führte Gespräche gegen Hitler in Stockholm, was der britische Geheimdienst vermerkte. Nach dem 20. Juli 1944 wurde er deswegen vorübergehend verhaftet. Nach Kriegsende verfasste er mit der späteren Herausgeberin der ZEIT, Marion Gräfin Dönhoff, die auf der Flucht im Frühjahr 1945 im Cramm’schen Schloss Bodenburg Unterschlupf fand, die erste Schrift über die Patrioten des 20. Juli und wurde, der unbelastete deutsche Weltstar, zum gesuchten Ansprechpartner von Vertretern der Alliierten in Westdeutschland.

Cramm nutzte in diesen Nachkriegsjahren seine ungebrochene Popularität für vielfältige karitative Zwecke, gründete etwa mit Eugen Gerstenmaier das Evangelische Hilfswerk, baute auf allen Ebenen, vom Hildesheimer Club über den DTV bis zum Deutschen Tennisbund, das deutsche Tennis wieder mit auf – und spielte auch wieder: Er gewinnt, fast vierzigjährig, Turniere in Westdeutschland und wird 1947 und 1948 erster „Sportler des Jahres“. Er siegt 1948 und 1949 (wie schon von 1932 bis 1935) bei den wieder ausgetragenen Internationalen Meisterschaften von Deutschland am Rothenbaum in Hamburg, im Einzel und im Doppel. Er gewinnt 1949 und 1950 weitere bedeutende Turniere gegen Topspieler der Weltrangliste und führt 1951 das wieder zugelassene bundesdeutsche Davis-Cup-Team noch einmal ins Europa-Finale. Den „besten Diplomaten Deutschlands zwischen 1932 und 1956“ nannte man ihn, als seine Karriere mit einem letzten Rothenbaum-Sieg im Doppel geendet hatte.

In den fünfziger Jahren baute Cramm sich mit Hilfe seiner exzellenten ägyptischen Kontakte in Hamburg ein Unternehmen für den Import von Baumwolle auf und gründete in Duisburg eine Tennisschule, die 1958 nach Berlin umzog und der jene beiden Spieler entstammten, die man zwischen Gottfried von Cramm und Boris Becker überhaupt noch kennt: Wilhelm Bungert und Christian Kuhnke. Auch Präsident seines alten Clubs Rot-Weiß wurde er in dieser Zeit. Glamour im Weltmaßstab brachte in diesen Jahren noch einmal Cramms öffentliche Wiederaufnahme seiner seit 1937 bestehenden, damals in Kairo geknüpften Beziehung zur reichsten Frau der Welt, der Woolworth-Erbin Barbara Hutton, deren sechster Ehemann er schließlich 1955 wurde, als einer der Nachfolger Cary Grants. Es war dies eine über Jahrzehnte schwelende und schwankende Liebesbeziehung – auch wenn in Cramms Leben nach Manasse Herbst auch weitere männliche Lieben Platz hatten.

Cramm starb am 9. November 1976 bei einem Autounfall auf einer Wüstenstraße bei Kairo – sein Chauffeur übersah einen kreuzenden Lastwagen. Von der Beerdigung des deutschen Weltstars auf dem Familienfriedhof im Park des Schlosses Oelber eine Woche später („500 Kränze aus aller Welt“) berichtete die Bild-Zeitung.

Auf dem Höhepunkt der Karriere Gottfried von Cramms im Sommer 1937 hatte John R. Tunis, der vielleicht bedeutendste amerikanische Sport-Autor des 20. Jahrhunderts, geschrieben: „Diesem Athleten zuzusehen, groß, elegant, robust und unerschütterlich auf dem Platz, heißt, eines der schönsten Schauspiele zu genießen, die man in der Galaxie des Sports überhaupt haben kann.“ – „To watch this athlete, tall, elegant, solid and imperturbable in action, is to watch one of the finest sights in all the galaxy of sport.“